Identitätsstiftung durch eine europäische Verfassung

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Identität ist ein mehrdeutiger Begriff, der sich nicht umstandslos mit der Ver-fassungsbildung in der Europäischen Union verbinden lässt. Identität bezeichnet den sozialpsychologischen Prozess der Herstellung einer biographischen Konti-nuität unter Verarbeitung der wechselnden Lebensumstände, Rollenerwartun-gen und der daraus fließenden Verhaltenszumutungen. Die Bildung einer perso-nalen Einheit überformt Rollenkonflikte und heterogene Wertorientierungen, die mehr oder weniger homogenisiert werden. Ausgangspunkt von Identitätsbildun-gen sind Selbst-und Fremdbeschreibungen, die Individuen, Gruppen und sozi-ale Gebilde gegen sich gelten lassen. Eine Vielzahl von Kategorien steht dafür zur Verfügung: Geschlecht und Alter, Hautfarbe und Herkunft, Sprache und Re-ligion, Berufund Sozialprestige, Wertüberzeugungen und moralische Postulate, übernationale, nationale und lokale Bezugssysteme. Aus diesem komplexen Ka-tegoriengeflecht entwickeln sich plurale Identitätsbildungen. Welche zu einem be-stimmten Zeitpunkt verhaltensprägend werden, bestimmt sich durch die Wert-bedentung der Bezugskategorie und die Verhaltenssituation. So kann selbst die primär wahrgenommene Geschlechtszugehörigkeit in konkreten Verhaltenssitu-ationen nebensächlich und irrelevant werden. Auch können sich langdauemde Identitätszuschreibungen plötzlich tief greifend veräodem, wie dies bei religiö-sen oder politischen Konversionserlebnissen der Fall zu sein pflegt. Die in Iden-titätsbildungen stattfindende Kombination von selbst gewählten und zugeschrie-benen soziokulturellen Kriterien ist in sich vielfach ambivalent und wandelbar. Identitäten sind daher erstens vielfältig, zweitens in verschiedenen Verhaltens-kontexten selektiv aktiviert und drittens, je nach der Wertladung der Bezugskri-terien, ungleichmäßig verhaltensrelevant. Kollektive, also eine unbestimmte Vielzahl von höchst unterschiedlichen Indi-viduen, bilden eine Vorstellung ihrer Eigenart durch die Bezugnahme auf gedach-te Ordnungen. Derartige gedachte Ordnungen (englisch: imagined communities) sind insbesondere Nationen, Kulturformationen, Sprachgemeinschaften und Herr-schaftsverbände. In solchen soziokulturellen Konstruktionen wird ein Objektbe-reich beschrieben, dem ein eigenständiger Wert zugeordnet wird und auf den sich Verhalten orientiert. Gedachte Ordnungen enthalten somit erstens eine nominale M. R. Lepsius, Institutionalisierung politischen Handelns, DOI 10.1007/978-3-658-01326-4_14, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Identitätsstiftung durch eine europäische Verfassung 223 Objektbestimmung, zweitens einen normativen Geltungsanspruch und drittens eine verhaltensleitende Orientierungskraft. Nationalbewusstsein entwickelt sich, wenn eine Nation durch Abgrenzung von anderen Nationen kategorial bestimmt, dieser Nation eine Wertbedeutung mit normativem Auspruch zugesprochen wird und sich ein Kollektiv an diesen Wertvorstellungen und Verhaltenszumutungen orientiert. Es handelt sich dabei um komplexe kognitive Konstrukte und sozio-kulturelle Handlungsorientierungen. Sie sind nicht ''naturwüchsig'', auch wenn sie sich häufig als "objektiv" gegeben darstellen. Im Falle von Japan etwa ist das Bezugsobjekt durch die Insellage von anderen Nationen deutlich abgegrenzt, mit einer mythologisch abgeleiteten obersten Wertigkeit ausgestattet, und bietet der sprachlich und kulturell homogenen Bevölkerung eine verhaltensrelevante nati-onale Orientierung. Nationen, auch die japanische, sind jedoch Produkte von er-folgreich operierenden Herrschaftsverbänden, die eine kollektive Ordnungsvor-stellung durchsetzen konnten. Moderne Staaten haben Nationenbildungen unter Einsatz von Gewaltmitteln bewirkt. Um die Außenabgrenzungen wurden verlust-reiche Kriege geführt, die Binnenhomogenisierung der Bevölkerungen wurde mit Machtmitteln durchgesetzt, Minderheiten wurden unterdrückt, nationale Wertvor-stellungen oktroyiert und eine Verhaltensorientierung auf die Herrschaftsstruktu-ren durchgesetzt. Die modernen Nationalstaaten sind insofern das Ergebnis von Schulpflicht, Militärpflicht und Steuerpflicht. Legitimatorisch wurden dazu Ide-en von einer Herkunftsgleichheit, einer spezifischen ,,Kulturmission", einer his-torischen Schicksalsgemeinschaft in Anspruch genommen. Das jeweils herrschende Nationalbewusstsein ist das Ergebnis des Instituti-onalisierungsgrades von kognitiven Ordnungsvorstellungen der faktischen Herr-schaftsstruktur und des auf sie gerichteten Verhaltens. Dadurch werden Wertvor-stellungen konkretisiert, und ihre Geltung für spezifische Handlungskontexte wird normiert. Im Falle Deutschlands hat sich das Nationalbewusstsein von der Zuge-hörigkeit zu einer "Kulturnation" in verschiedenen staatlichen Einheiten durch die Reichsgründung 1871 zu einer Zugehörigkeit zu einer "Staatsnation" gewandelt. Die Deutschen im Verband des Habsburger Reiches schieden aus der deutschen Staatsnation aus, doch zählten sie weiterhin zur deutschen Kulturnation. In den Jahrzebnten der deutschen Teilung erzwangen die faktischen Machtverhältnis-se die Ausbildung zweier eigenständiger deutscher Staaten mit einem je eigenen Selbstverständnis. Die zwischen ihnen bestehenden militärischen, politischen, ökonomischen und -nach dem Mauerbau -auch sozialen Grenzen führten zu unterschiedlichen Fremd-und Selbstbeschreibungen mit spezifischen Verhalten-sorientierungen für bestimmte Handlungskontexte. Die Idee des deutschen Nati-onalstaates verblasste in der Erinnerung. Die Wiedervereinigung erschien

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Lepsius, M. R. (2013). Identitätsstiftung durch eine europäische Verfassung. In Institutionalisierung politischen Handelns (pp. 222–239). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01326-4_14

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