psychoneuro 2004; 30 (6): 330-236 Wenn sich ein Tinnitusbetroffener in ärztliche Behandlung begibt, wird er zunächst gefragt, was ihm fehle. Er beschreibt dann sein Symptom, das konstant oder inkonstant wahrgenom-men wird. Erst danach folgt die eigentliche Antwort: Es fehlt die Ruhe und Stille! Um das Aus-maß des Leidens in verständlichem Umfang zu verstehen, ist neben der HNO-und neurologi-schen Diagnostik u.U. auch eine Verhaltensanalyse mit Erfassung des Tinnitusschweregrades sowie der psychiatrischen Komorbidität zu erheben. So finden sich z. B. in neurootologischen Spezialambulanzen bei knapp zwei Drittel der Patienten gegenwärtig oder zurückliegend psy-chische Störungen. Ein verhaltenstherapeutischer Zugang, der auf der Basis systematischer Be-handlungskonzepte eine Bewertungs-und Verhaltensänderung erreicht (kognitive Verhal-tenstherapie), die psychiatrische Komorbidität und sozialmedizinischen Aspekte berücksichtigt und zu Maskierungsmöglichkeiten mittels frühzeitiger Hörgeräteanpassung bzw. Hörtraining/ Rauschgenerator motiviert, ist aus derzeitiger Sicht eine effektive Behandlung. men (9): Von 1 544 befragten Ameri-kanern skalierten diejenigen mit tonalem/klingelndem Tinnitus die Lautheit ihres Tinnitus auf einer numerischen 100-mm-Analogskala (NAS) durchschnittlich mit 75 an, Personen mit einem rauschenden bzw. nichttonalem Tinnitus stuften ihn dagegen durchschnittlich mit 55 ein. Bezug zu Umgebungs-geräuschen Tinnitus, gleich welcher Genese (Abb. 1), wird von den meisten Be-troffenen abhängig von Umgebungs-geräuschen als störend empfunden: Nach der repräsentativen Studie der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL, Wup-pertal) von 1999 wird der chroni-sche Tinnitus von 37% nur bei Stille wahrgenommen, d.h. tagsüber wird er überhaupt nicht beachtet. Bei weiteren 44% lässt sich der Tinnitus durch Umgebungsgeräusche über-decken: Diese Menschen können sich zumindest mit Musik, Wind-geräuschen z.B. beim Radfahren oder Nutzung von Masker bzw. Hör-geräten etc. vom Tinnitus ablenken. Schwerbetroffen dürften diejenigen 17% der chronischen Fälle sein, de-ren Tinnitus sich selbst durch star-ken Lärm nicht übertönen lässt. Hierzu gehören unter Umständen auch Betroffene mit Tinnitus auf ei-nem ertaubten Ohr (seltene Fälle von Hörsturz, nach Schädelbasis-fraktur, Operation am Hörnerv we-gen Akustikusneurinom etc.), denen sind verschiedene Untersucher zu dem Ergebnis gekommen, dass un-terschiedliche psychoakustische Parameter allenfalls gering gradig mit den im Zusammenhang mit dem Tinnitus angegebenen Beeinträchti-gungen und der Tinnitusbelastung korrelieren. So fand sich in mehre-ren Studien, dass psychologische Therapieverfahren eine deutliche Abnahme der Tinnitusbelastung und der subjektiven Tinnituslautheit be-wirkten, ohne dass dies mit einer relevanten Veränderung bei den er-fassten psychoakustischen Laut-heitsmaßen (Tinnitusanalyse) ein-herging (7). Lediglich die Maskie-rungspegel der minimalen Ver-deckung (Minimal Masking-Level MML) und die Unbehaglichkeits-schwelle (UBS) scheinen zumindest für das Monitoring bei Masker-The-rapien sinnvoll zu sein (16). Auch scheint ein tonaler Tinnitus stören-der bzw. intensiver empfunden zu werden als nichttonale Tinnitusfor-D ie Tatsache, dass wohl jeder Mensch das Phänomen Tinni-tus kennt, macht es schwie-rig, die Häufigkeit des Vorkommens und das Ausmaß der Belästigung zu bestimmen. Wir wissen zwar, dass bei Erhebungen in Deutschland beim Hausarzt ca. 15% und beim HNO-Arzt ca. 25% der Patienten Tin-nitus angeben und jährlich bei ca. 340 000 der erwachsenen Bundes-bürgern der Tinnitus in eine chroni-sche Form übergeht. Viel schwieri-ger ist es allerdings, zu eruieren, warum für viele der Tinnitus nicht störend ist und andere unter dem Dauergeräusch verzweifeln.
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Goebel, G. (2004). Verhaltensmedizinische Aspekte und Therapie des chronischen Tinnitus. Psychoneuro, 30(6), 330–336. https://doi.org/10.1055/s-2004-829995
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