Gehirn und Gesellschaft

  • Meitz T
  • Zurstiege G
  • Schmidts S
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In ihren populären Varianten tritt die Hirnforschung mit dem Ziel an, das letzte Geheimnis des Menschen zu lüften. Aber könnte sich die Sache nicht vielleicht genau anders herum darstellen? Wäre es nicht möglich und aus guten Gründen wahrscheinlicher, dass die Hirnforschung, je mehr sie in ihren Auflösungsmöglichkeiten fortschreitet, einem neuen Geheimnis begegnen wird – nämlich der Verschränkung von Physis, Bewusstsein und Kommunikation? Deutet nicht jetzt schon einiges darauf hin, dass wir einer Eigendynamik vernetzter Netze begegnen, deren Verhalten jeglicher Kausalbeschreibung spottet, einer Welt in der sich die Grenzen von Bio-logie, Psychologie und Soziologie verflüssigen? – Dies ist übergreifende Ahnung, welche den hier vorgestellten fünf Studien zugrunde liegt. Unter dem Titel »Die gesellschaftliche Reflexion der Hirnforschung« (I) geht es zunächst darum, die Prozesse der wechselseitigen Rezeption im Detail für die wichtigen gesellschaftlichen Funktionssysteme nachzuzeichnen. Es wird untersucht, wie sich Recht, Medizin, Politik, Erziehung, Massenmedien, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft zu den Hirnwissenschaften in Beziehung setzen lassen. Wir begegnen hier komplexen Reflexionsverhältnissen, in denen jeweils aus einer bestimmten Beobachterperspektive eine spezifische Selektivität erzeugt wird, die für den jeweiligen Funktionsbezug konstitutiv ist. Die Hirnforschung wird hier sozusagen von verschiedenen relevanten Orten der Gesellschaft aus betrachtet. In der Zusammenschau der unterschiedlichen Horizonte lässt sich recht viel über die Reflexionsverhältnisse unserer Gesellschaft erfahren. Das Thema ›Gehirn‹ erscheint hier gleichsam als Tertium comparationis, über das sich die Binnenverhältnisse unserer Gesellschaft synoptisch darstellen lassen. Nicht nur, dass die Dinge je nach Kontext anders aussehen, sondern auch, dass jeder Ort der Beobachtung sein eigenes ›Subjekt‹ erzeugt. Nicht zuletzt kann auf diesem Wege auch die Frage beleuchtet werden, ob die Hirndiskurse andere Felder der Gesellschaft versklaven oder ob sie an der Differenzstruktur der Gesellschaft abprallen. In »Figurationen der Subjekt-Objekt-Dichotomie« (II) wird der Diskurs der Hirnforschung im Hinblick auf die epistemische Problematik des Beobachters in einen größeren historischen Zusammenhang eingebettet. Wir treffen hier auf unterschiedliche Paradigmen und Lösungsversuche und begegnen abschließend einem Phänomen, das sich als ›eklektische Epistemologie‹ bezeichnen ließe: In den Publikationen durchaus namhafter Neurowissenschaftler zeigen sich zunehmende ›Kompositionen‹, in denen unterschiedliche, nicht miteinander zu vereinbarende Wissenskonfigurationen argumentativ kombiniert werden. Im Sinne einer soziologischen Reflexion geht es dabei weniger um eine Kritik an solchen epistemischen Flickenteppichen als vielmehr um die zeitdiagnostische Frage, ob sich die gegenwärtigen Diskurskulturen nicht schon längst in der Gleichzeitigkeit inkommensurabler Beobachtungsverhältnisse eingerichtet haben. In »Symbolische Integration von Hirnwissen« (III) wird die Aufmerksamkeit auf die Wissenskonfiguratio-nen der Hirnforschung gelenkt. Dabei begegnen wir zunächst dem Befund, dass die Wissensproduktion der Hirn- und Kognitionsforscher in den letzten fünfzig Jahren zu einer schier unüberschaubaren Flut von Publikationen angewachsen ist. Zudem haben sich die Neurowissenschaften mittlerweile in eine Vielzahl von Subdisziplinen ausdifferenziert, welche aufgrund unterschiedlicher Forschungsparadigmen kaum noch zu einer sinnvollen Einheit integriert werden können. Angesichts dieser nahezu babylonischen Verhältnisse stellt sich die Frage, wie sich die Hirnforschung unter den gegebenen Verhältnissen noch als Gesamtprojekt darstellen kann. Die vierte Studie mit dem Titel »Gefühl und Gesellschaft « (IV) zielt primär auf die Beobachtungsverhältnisse der Soziologie. Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin fand diese ihre Aufgabe vor allem darin, die Selbstreflexion der Gesellschaft zu bewirtschaften. Wenn nun aber biologische Selbstbeschreibungen ihrerseits vermehrt soziale Prozesse thematisieren, stellt sich die Frage nach der Kompossibilität der (neuro-)bio-logischen Beschreibungen mit den unterschiedlichen soziologischen Theorieangeboten. Als Exempel dient der Themenkomplex ›Gefühl und Emotionen‹, denn an kaum einem anderen Gegenstand lassen sich die Trennlinien wie auch Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Beobachterperspektiven deutlicher herauspräparieren. In der letzten Studie mit dem Titel »Neurophänomenologie – oder das Bewusstsein als soziales Organ« (V) wird die Beziehung zwischen sozialen Systemen, Psyche und Gehirn an einem Beispiel nochmals intensiver ausgelotet. Wir stoßen hier auf eine neurowissenschaftliche Spitzenforschung, für welche sich die Grenzen zwischen neuronaler Dynamik, phänomenologischer Beschreibung und sozialer Dynamik immer mehr verwischen – und damit auf eine Anthropologie, die sich in boden-losen Verhältnissen gründet.

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Meitz, T. G. K., Zurstiege, G., & Schmidts, S. J. (2011). Gehirn und Gesellschaft. In Schlüsselwerke des Konstruktivismus (pp. 362–376). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93069-5_21

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