Diagnose und Beschreibung der Sozialstruktur moderner Gesellschaften erfolgte immer wieder von deren Mitte her: Dies gilt für die populäre Charakterisierung der westdeutschen Klassenstruktur als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky 1965). Auch die Klassenanalyse Bourdieus macht die Mittelklassen, nämlich das „Kleinbürgertum“, zum Schlüssel der modernen Klassenanalyse (Eder 1989). In den USA reicht die Palette der prominenten „Mittelstandsdiagnostiker“ von David Riesman et al. (1963[1950]) über Wright C. Mills (1956) über Daniel Bell (1975) und Gouldner (1979) bis hin zu Barbara Ehrenreich (1994 [1989]). Schließlich findet auch die bundesrepublikanische Individualisierungsthese von Beck (1986) ihren Ausgangspunkt in den mittleren Lagen und Milieus. Der „Fahrstuhleffekt“, der Ausbau von Bildungssystem und Wohlfahrtstaat, sowie die Ausdifferenzierung von Mustern der Lebensführung, wurden zum Kristallisationspunkt für die Aufstiegserwartungen der Mittelklasse. Nach Beck wurde dadurch ein Prozess der massenhaften Individualisierung in Gang gesetzt, der das bis dato gültige Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten untergrub und das Modell der autonomen Lebensführung erstmals für breite Mittelschichten erreichbar macht. Becks Diagnose enthüllt das Bild einer Mittelstandsgesellschaft, einer Gesellschaft, die sich, anders als noch bei Schelsky, nicht mehr als nivelliert, sondern als individualisiert begreift.
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Koppetsch, C. (2010). Jenseits der individualisierten Mittelstandsgesellschaft? In Individualisierungen (pp. 225–243). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92589-9_12
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