Die Soziologie hat sich weitgehend in irreale Betrachtungen verloren, weil sie die „Gesellschaft“ zum Grundbegriff ihrer Analysen gemacht hat. Der Artikel legt dar, wie dieser Begriff anfangs jene willkürlichen Vergesellschaftungen fassen sollte, die durch die Reduktion der korporativ verfaßten Ordnungen auf den modernen Staat entstanden und später durch die Soziologie elaboriert und mit stillen Annahmen umgeben wurden. Während Georg Simmel und Max Weber nie von der „Gesellschaft“ im Sinne der heutigen Soziologie sprachen, kann Emile Dürkheims Argumentation als exemplarisches Beispiel für „Die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie“ dienen, wobei die soziologische Konstruktion der „Gesellschaft“ eher dem Bedürfnis nach einer sinnvollen und vorhersehbaren Ordnung galt als der Aufgabe, die Tatsachen in den Blick zu nehmen. Die Soziologie sollte deshalb von ihrer Erfindung der „Gesellschaft“ abrücken, die wohl dem Selbstverständnis der politischen und kulturellen Eigenständigkeit der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts entsprach, aber die wesentlichen Veränderungen der sozialen Wirklichkeit, nämlich das Wachstum der internationalen und transnationalen Vergesellschaftungen aller Art, gar nicht mehr wahrzunehmen in der Lage ist. So verliert die Soziologie, welche über die charakteristische Eigenart und Problematik unserer Zeit unterrichten sollte, immer mehr den Blick für die entscheidenden Vorgänge und zwingt ihre blinden Befangenheiten auch in dem Maße dem politischen Handeln auf, wie sie ihr gesellschaftliches Weltbild in der Öffentlichkeit durchgesetzt hat. Die soziale Konstruktion der Realität ist langst von der soziologischen Konstruktion der Realität überholt worden.
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Tenbruck, F. H. (1981). Emile Dürkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie. Zeitschrift Für Soziologie, 10(4), 333–350. https://doi.org/10.1515/zfsoz-1981-0401
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