Gesellschaftlicher Strukturwandel und soziale Verankerung der Parteien

  • Eith U
  • Mielke G
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1 Das Cleavage-Modell als umfassender Interpretationsansatz der Entwicklung von Parteidemokratien Auch fünf Jahrzehnte nach seinem Erscheinen im Jahr 1967 ist der mittlerweile zum klassischen Kanon der vergleichenden Parteienforschung zählende Aufsatz von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan " Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments " (Lipset/Rokkan 1967) noch immer ein sinnvoller Ausgangspunkt für analytische Überlegungen zur Verankerung von einzelnen Parteien und gan-zen Parteisystemen in den sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Strukturen moderner Gesellschaft en und zum Wandel dieser Verankerung. Lipset und Rokkan skizzieren in groben Strichen ein Modell der europäischen Nationen-und Gesellschaft sentwicklung und der damit verbundenen Demokrati-sierung, das die Parteien als die zentralen Akteure der modernen Demokratie aus langfristig angelegten und fundamentalen, politische Identitäten stift enden und prägenden ökonomischen und kulturellen Konfl iktlagen erwachsen lässt (Mielke 2001, S. 78 – 80; Schoen 2005, S. 145 – 151;Pappi, Brandenburg 2010, S. 461 -467) . Diese Konfl iktlagen, bei Lipset und Rokkan als cleavages bezeichnet, entwickeln sich in zwei großen Schüben, die alle europäischen Gesellschaft en erfassen. In der nationalen Revolution und in der industriellen Revolution treten jeweils über die Zeit und alle nationalen Unterschiede hinweg zwei cleavages hervor, die sich dann nach der Ausbreitung des Wahlrechts im Zuge der Demokratisierung auch auf der Parteienebene manifestieren. Im Verlauf der Staatengründung sind dies zum einen der Gegensatz zwischen dem neuen nationalen Zentrum und einer mehr oder minder vielgestaltigen, an den politischen Rand gedrängten Peripherie, zum andern der Gegensatz zwischen dem neuen, zumeist säkularen und liberalen (National-) Staat und der Kirche, bei dem es vor allem um die politische Deutungshoheit und die © Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 E. Wiesendahl, Parteien und soziale Ungleichheit, DOI 10.1007/978-3-658-10390-3_2 40 Ulrich Eith und Gerd Mielke kulturelle Hegemonie im neuen Staatswesen geht. Auch die industrielle Revolution bringt zwei cleavages hervor: den Gegensatz zwischen städtisch-handwerklichen und ländlich-agrarischen Interessen einerseits und den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit andrerseits. Lipset und Rokkan ordneten die beiden zuletzt genannten cleavages als ökonomische Konflikte ein; hingegen sahen sie in den cleavages der nationalen Revolution kulturelle Konflikte. Diese Einordnungen erscheinen nicht sonderlich sinnvoll; denn ein Blick auf die verschiedenen historischen Ausprägungen und Entwicklungen der vier cleavages zeigt, dass sie jeweils nach kurzer Zeit allesamt sowohl eine ökonomische als eben auch eine kulturelle Dimension aufweisen. Wir werden im weiteren Verlauf noch auf diesen Prozess der kulturellen Überformung und Durchdringung auch ökonomischer Konflikte eingehen. Diese durchgängige, sich über ganz Europa ausbreitende Struktur von cleavages ließ gleichwohl sehr unterschiedliche, nationale Parteiensysteme zu. Die nationalen Unterschiede gehen im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurück. Zum einen vollzogen sich nationale und industrielle Revolution in den einzelnen Ländern durchaus nicht in zeitlichem Gleichklang, sondern von Land zu Land in sehr unterschiedlichen Abfolgen und Taktungen. Zum andern führen Lipset und Rokkan in ihr Modell vier thresholds – also " Schwellen " – ein, die den Einfluss neuer, aus den cleavages aufwachsender Parteien stärken, hemmen oder auch in kooperative Prozesse mit bereits bestehenden Parteien umlenken können. Unter diesen " Schwellen " stellt in den verfassten Demokratien das Wahlsystem mit seinen Filtereffekten für den Parteienwettbewerb den wohl bedeutsamsten Prägefaktor dar. Auch die Entwicklung des deutschen Parteiensystems verläuft erkennbar in den Bahnen des Cleavage-Modells von Lipset und Rokkan. Allerdings zeichnen sich, wie die historisch angelegte Parteienforschung in aller Ausführlichkeit zeigt, in den Etappen vor der Entstehung der Bundesrepublik immer wieder Brüche und Verschiebungen innerhalb der Parteiensysteme sowohl auf der nationalen als auch auf der noch vielgestaltigeren Länderebene ab. Sie gehen auf die Übergänge vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, auf die Unterbrechung einer demokratischen Weiterentwicklung des Parteiensystems durch die nationalsozialistische Diktatur und schließlich auf die deutsche Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, auf Zäsuren innerhalb der Fortentwicklung des politischen Systems also, die jeweils mit erheblichen Veränderungen der " Schwellen " des Parteienwettbewerbs ver-bunden waren. Zu diesen Umbrüchen kann man auch die deutsche Vereinigung von 1990 rechnen. Zwar ging diese nicht – wie die Systemwechsel davor – mit einer neuen Konstruktion der " Schwellen " einher, aber die Integration Ostdeutschlands in das gesamtdeutsche Parteiensystem führte aufgrund der doch massiven wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Unterschiede schon mittelfristig zu erheblichen Unterschieden

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Eith, U., & Mielke, G. (2017). Gesellschaftlicher Strukturwandel und soziale Verankerung der Parteien. In Parteien und soziale Ungleichheit (pp. 39–61). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10390-3_2

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