Geschlechter und Geschlechterverhältnisse

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Abstract

Soziologie der Geschlechterverhältnisse hat sich in den letzten drei Jahrzehnten als ein eigenständiger Forschungsbereich, in einer institutionalisierten Form entwickelt und etabliert. Fragestellungen: 1. Wie erfolg die Unterscheidung von zwei Geschlechtern (Frauen und Männer)? 2. Wie lassen sich die Ungleichheiten erklären, die an diese Unterscheidung anschliessen? 1. Die soziale Konstruktion von Geschlecht Herausforderung, denn wie Judith Butler (2004: 185ff) ist die Geschlechterdifferenz teils gegeben teils konstruiert. Prozesse der Geschlechterunterscheidung als Untersuchungsgegenstand ' Wetterer (2004); in der Ethnomethodologie stark durch Garfinkel (1967) ' Agnes (Mann-zu-Frau Transsexuelle) - Passing der Transsexuellen (Überschreiten der Geschlechtergrenzen) wird als ein Krisenexperiment unter Alltagsbedingungen verstanden (S. 633). Ausgangsfrage: "How is a social reality where there are two, and only two, gender constructed?" (Kessler & McKenna, 1978: 3 zit. in: Meuser, 2008: 633). ' welches sind die Kriterien, an denen diese Unterscheidung im Alltag festgemacht, in Interaktionen durch Zuschreibungen vorgenommen wird? Bedeutung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale. ' Geschlechtszuschreibungen sind meist Genitalzuschreibungen, ' doing gender (West & Zimmermann, 1987) ' kulturelle Semantik: Deutungen und Wertungen ' Geschlechterdifferenz gründet auf weiblichem Defizit, Geschlechterrelation macht hierarchisch die männliche Superiorität geltend (Gildemeister, 1992). ' Dem symbolischen Repertoire mit dem sich Handelnde als Männer und Frauen zu erkennen geben, ist die (Ungleichheits-)Ordnung der Geschlechter eingeschrieben (S. 634) Das Gesellschaftliche, das Konstruierte an der Geschlechterordnung wird durch das Anknüpfen am Körper verschleiert (Bourdieu, 1997: 169; Krais, 2003: 165). Biologie(Chromosomenkonstellationen) und Hinforschung (Hirnareale) ' ältere und neuere Forschung zeigen: Eindeutigkeit ist ein gesellschaftliches Interesse, denn "Dem theoretischen Interesse an Unterschieden geht ein praktisches an Unterscheidung voran" (Hirschauer, 1993: 24; zit. in: Meuser, 2008: 633). 1.1 Geschlecht und Sozialisation (S. 636) Fremd- und Selbstsozialisation ' Geschlecht, Konstruktionsprozess, der auf ‚generativen Regeln der Herstellung sozialer Situationen' (Gildemeister, 1992: 231) beruht. v.a. in der Primärsozialisation erfolg die geschlechtliche Sozialisation ' vorreflexive, mimetische Aneignung von Praktiken (Hagemann-White, 1984). Für Jungs männliche Peergroup entscheidend: unter Männern spielen sich die ernsten Spiele des Wettbewerbs ab (Bourdieu, 1997: 2003); ' Maccoby (1990): das Spiel unter Jungs ist früh rau = ‚rough-and trumble-play-stile' S. 636/637. 2. Ordnungsprinzip Geschlecht (S. 637) In allen Gesellschaften ' Zuordnung, Zweigeschlechtlichkeit ist verbunden mit der Zuweisung zu unterschiedlichen Aufgaben, Handlungsfelder, Positionen, Tätigkeiten ect. Alltag ' Begegnung immer zuerst ‚Gender-check', meist unbewusster Vorgang. Bourdieu hat das 1979 in seinen Untersuchungen zu den Kabylen (Berber-Gesellschaft) aufgezeigt: weibliche Welt des Innen und der Passivität, die männliche des Aussen und des Aktiven. Bis heute wird Thematik in der Soziologie debattiert; Geschlecht = major status; Bürgerliche Industriegesellschaft basiert auf der technologischen Innovation, der politischen Emanzipation und auf de strikten geschlechtlichen Arbeitsteilung: Trennung von Öffentlichkeit/Beruf und Privatsphäre/Familie ermöglichte erst das ‚Berufsmenschentum' (Beck-Gernsheim, 1980) ' Hierarchisierung der Sphären von Produktion und Reproduktion. 3. Wandel der Geschlechterordnung (S. 640) De-Institutionalisierung (Heintz et al., 1997) oder Dethematisierung (Pasero, 1995) ' Grenzen zwischen den Geschlechtern werden flexibel; Veränderungen in den Familienbeziehungen ' das bürgerliche Familienmodell verliert sein ‚Personal' (S. 640); Geburt des ersten Kindes führt zu einer Retraditionalisierung Veränderungen im Bildungsbereich ' Eroberung ‚männlicher' Berufsfelder durch Frauen, aber nicht umgekehrt (!), bei Männern Veränderungen in den Einstellungen = ja, im Verhalten = Nein… "Der verbalen Unterstützung eines egalitären Geschlechterarrangements steht eine weitgehende Reproduktion sozialer Ungleichheit der Geschlechter auf der Ebene habitualisierter Alltagspraxis gegenüber" (Meuser, 2008: 642). 3.1 Veränderungsgeneratoren: Geschlechterpolitik und Strukturwandel der Erwerbsarbeit (S. 642) 1970er Jahre ' zweite Frauenbewegung ‚das Private ist politisch', Folge: Frauenbeauftragte ' Gender Mainstreaming, seit 1997 im Amsterdamer Vertrag als verbindliche Aufgabe für Mitgliedsstaaten festgeschrieben (S. 643). Geschlechterverhältnisse veränderten sich durch die Frauenbewegung, die Frauenpolitik und dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Letzteres sorg für die Einsicht, dass Diskriminierung ökonomisch ineffizient ist (Meuser, 2008: 643). Wissensgesellschaft ' Entgrenzung von Arbeit, erodierende Normalarbeitsverhältnisse beispielsweise JAZ (=Jahresarbeitszeit) sogen dafür, dass das Zeitmanagement in der familialen Lebensführung noch mehr an Bedeutung gewinnt. Durch die enorme Bedeutung des Dienstleistungssektors und des damit verbundenen Nachfrage nach Soft skills, sollten die Beschäftigungschancen von Frauen steigen, auch bezüglich Führungspositionen. Denn so genannt ‚weibliche Fähigkeiten' sind die im Dienstleistungssektor nachgefragten Führungsfähigkeiten (S. 644). Inwiefern sich Männer diese in Zukunft vermehrt aneignen werden wollen/müssen, ist eine noch offene Frage. 4. Geschlecht, Bildung, Erziehung - Schule und Geschlechterordnung (S. 644) Zurzeit sind v.a. die schlechteren Bildungserfolge von Jungen Gegenstand im bildungs- und geschlechterpolitischen Denken. Allgemein existiert auch im Bildungsbereich eine Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel. 4.1. Doing gender in der Schule In der Schule wird v.a. via Interaktionen eine Geschlechterordnung hergestellt, deren Bedeutung über die Schule hinausreicht; Forschung konzentriert(e) sich auf: - Lehrpersonen und SchülerInneninteraktionen ' ‚Zweidrittel-Aufmerksamkeit', in der Schule wird v.a. das Verhalten belohnt, das mehrheitlich Mädchen zeigen (vgl. Stürzer et al., 2003), denn "Die männliche peer-Kultur ist mit den an Disziplin orientierten Verhaltensanforderungen der Schule nicht kompatibel, die weibliche hingegen schon" (Meuser, 2008: 645). - Interaktionen zwischen SchülerInnen ' Gespür für die soziale Relevanz der Geschlechterunterscheidung wird entwickelt, die Einübung in die Strukturlogik von Männlichkeit und Weiblichkeit findet statt. 4.2 Geschlechtstypische Fächerwahl und Berufsinteressen (S. 646) die häufigsten gewählten Leistungs- oder Schwerpunktfächer widerspiegeln die ‚traditionelle Aufteilung' zwischen den Geschlechtern ' Präferenzwahl setzt sich nach der Schule fort in Bezug auf Ausbildungsberufe und/oder Studienfächerwahl (Berufe und Studienfächer haben ein Geschlecht). 4.3 Geschlechterrelationen im Lehrkörper (S. 646) Feminisierung des Lehrberufs ' wird etwas relativiert, wenn nach Voll- und Teilzeit unterschieden wird. Zurzeit wird heftig debattiert, ob die Schule als Lernumgebung den jungenspezifischen Bedürfnissen und Interessen gerecht wird; (Anmerkung R.S. unintendierter (?)) Nebeneffekt ' Essentialisierung des Geschlechts. In der historischen Rückschau ist nämlich zu konstatieren, dass bis in die 1960er Jahre der Anteil von Frauen in den Schulleitungen höher war als heute (Grund: Mädchengymnasien, Töchterschulen) 4.4 Fazit: Die Schule im Fokus von Geschlechter- und Bildungspolitik (S. 648) Geschlechtergerechtigkeit fordert ' Aufbrechung der Reproduktionslogik, Entwicklung egalitäter Geschlechterverhältnisse - die in den 1960er Jahren eingeführte Koedukation als Standardform soll durch eine ‚reflektierte Koedukation' (=Geschlechterstereotypen bei Lehrpersonen und SchülerInnen bewusst machen, an Interessen und Erfahrungen der SchülerInnen anknüpfen, unreflektierte geschlechterorientierte Selbstkonzepte hinterfrage, vgl. Hoppe & Nyssen, 2004: 240). - Entwicklung und Etablierung der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung, Geschlechterverhältnisse werden fokussiert und analysiert; - Thematik schwierig, denn es geht nicht "(…) nur um kognitive Bildungsprozesse, nicht nur um den Erwerb von Wissen. Es ist auch mehr verlangt als ein Erwerb sozialer Kompetenzen, es sind fundamentale Identitäten involviert" (Meuser, 2008: 649) ' es geht immer um Gewinn und Verluste, Verzicht auf Privilegien... 5. Ausblick - Konfigurationen sozialer Ungleichheit: Geschlecht, Klasse, Ethnizität (S. 650) Fokus ' Geschlechtslage ist mit anderen sozialen Lagen verknüpft, Begriff der ‚Intersektionalität' (Knapp, 2005), das heisst: Nicht "(…) die Varietät männlicher und weiblicher Geschlechterlagen als eine Folge individueller Wahlen begreift (begreifen), Varietät entsteht weniger als Folge intentionaler Strategien; sie ergibt sich vor allem aus der Verschränkung der Geschlechtslage mit anderen Soziallagen" (Meuser, 2008: 650). - Bedeutung, die die Geschlechtslage für Erfahrungs- und Interessenbildung erlangt, ist bestimmt durch die intersektionale Verknüpfung mit anderen Soziallagen - Analysen, die der Komplexität der Geschlechterverhältnisse gerecht werden wollen, dürfen nicht nur die Kategorie Geschlecht fokussieren.

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Meuser, M. (2008). Geschlechter und Geschlechterverhältnisse. In Lehr(er)buch Soziologie (pp. 631–653). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90987-5_7

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