Störungssignale im sozrealistischen Normensystem. Der Fall Andrej Platonov

  • Kaminskij K
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1 Auf der Anklagebank Am 1. Februar 1932 fand in Moskau bei einer Versammlung des Organisations-komitees der VSSP -Vserossijskij Sojuz sovetskich Pisatelej [Allrussische Union der sowjetischen Schriftsteller] eine merkwürdige Gerichtssitzung statt. Unter den Richtern waren namhafte sowjetische Schriftsteller, Literaturfunktionäre und Kritiker versammelt. Auf der Anklagebank befand sich der Schriftsteller Andrej Platonov, der vor etwa einem Jahr im Mai 1931 mit der Veröffentlichung seiner Erzählung Vprok. Bednjackaja chronika [Zum Nutz und Frommen. Eine Arme-leutechronik] einen handfesten Skandal im Literaturbetrieb provoziert hatte. Es gehörte nun nicht zu den Aufgaben dieses literarischen Gerichts die Schuld Pla-tonovs festzustellen, denn diese war auf einer weitaus höheren Ebene – von Sta-lin persönlich – bereits festgestellt und beschlossen worden. Ein Jahr später, nachdem sich die heftigsten Wogen der Kritik und ideologischer Vorwürfe ge-glättet hatten, ging es diesem Gericht darum, ein vernünftiges Strafmaß festzu-setzen und den frevlerischen Autor im Sinne der Partei und ihrer ideologischen Forderungen umzuerziehen, um somit den talentierten Schriftsteller für die sow-jetische Literatur zu erhalten. Deshalb kamen im Laufe der Verhandlung brisante ideologische und methodologische Fragen zur Sprache. Einerseits ging es darum festzustellen, wie Platonovs Abweichung zu bewerten sei, als bewusste klassen-feindliche Diversion, was ihm seitens der offiziellen Kritik angelastet wurde, oder als unbewusste Subversion seines literarischen Stils. Andererseits stand damit die grundsätzliche Frage im Vordergrund, ob die ästhetische Schreibweise und literarische Methode eines Schriftstellers von seiner Weltanschauung ge-trennt betrachtet werden können. Als nicht minder merkwürdig erweist sich auch der Zeitpunkt der Verhand-lung selbst. Die zwanziger Jahre waren in der Sowjetunion durch eine große Vielzahl verschiedener künstlerischer und literarischer Strömungen und kriti-scher Schulen gekennzeichnet, deren Dialog zu durchaus interessanten Diskussi-onsansätzen über die marxistische Weltanschauung und künstlerische Methoden führte. Innerhalb dieser Pluralität gewinnt die RAPP – Rossijskaja Associacija Proletarskich Pisatelej [Russische Assoziation der proletarischen Schriftsteller] 64 Konstantin Kaminskij bis zum Anfang der 30er Jahre zusehends an Macht und Einfluss, sowohl institu-tionell, als auch ideologisch. Die RAPP hat nicht nur einen starken Rückhalt in der Partei, sondern kontrolliert faktisch die bedeutendsten literarischen Zeit-schriften sowie die redaktionellen Stellen der wichtigsten Zeitungen. RAPP schaltet nach und nach alle rivalisierenden literarischen Gruppierungen aus und erlangt damit ein Deutungsmonopol der marxistischen Methode in der Literatur. Gleichzeitig erhebt die RAPP Anspruch auf Unabhängigkeit von Partei und Re-gierung. Eine dermaßen starke Position rief bei Stalin immer mehr Unmut her-vor, so dass die Veröffentlichung der Erzählung Platonovs in der von der RAPP kontrollierten Zeitschrift Krasnaja Nov' [Die rote Neuheit] 1931 zum ersten Stein des Anstoßes wurde. Im Folgenden instrumentalisiert Stalin diese Verfeh-lung zur Kritik an den RAPP-Funktionären. Im Beschluss des Zentralkomitees vom 23. April 1932 O perestrojke literaturno-chudožestvennych organizacij [Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen] werden RAPP und weitere noch bestehende Schriftstellerorganisationen aufgelöst. Gleichzeitig wird unter Einflussnahme Stalins im Mai 1932 der Terminus ‚Sozialistischer Realismus' ins Leben gerufen, der nun als einheitliches ästhetisches Programm die Position der Partei in allen Fragen der Literatur und Kunst kennzeichnen sollte und mit der Gründung des Schriftstellerverbandes der UdSSR seine institu-tionelle Festigung erhielt. Es dauerte weitere zwei Jahre, bis das Normensystem des Sozialistischen Realismus auf dem Ersten Allunionskongress der sowjeti-schen Schriftsteller 1934 allmählich Gestalt annahm. Wie man sieht, fand die Verhandlung Platonovs im Vorfeld dieser Ereignis-se statt und ist vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet, dass sie in einem ge-wissen Normenvakuum stattfand. Denn im Februar 1932 hatte die RAPP ihr Monopol in den literaturpolitischen Normsetzungsprozessen bereits weitgehend eingebüßt, und die Linie der Partei war zu diesem Zeitpunkt noch nicht deutlich formuliert worden. Es wird nun im Rahmen dieses Beitrags die Frage zu klären sein, ob und inwieweit das Schaffen und der literarische Stil Platonovs an der Entwicklung des sozrealistischen Normenkanons beteiligt sind. Zu diesem Zweck soll der komplexe Fall rund um die Veröffentlichung der Erzählung Zum Nutz und Frommen, dessen Verlauf bis heute in der Forschung viele Fragen aufwirft, re-konstruiert werden. In einem größeren theoretischen und literaturgeschichtlichen Kontext betrachtet, soll dieser Modellfall demonstrieren, wie Abweichungen in einem ästhetisch-ideologischen Normensystem entstehen und welche Funktion sie innerhalb dieses restriktiven Normensystems einnehmen können.

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Kaminskij, K. (2010). Störungssignale im sozrealistischen Normensystem. Der Fall Andrej Platonov. In Konstruierte Normalitäten – normale Abweichungen (pp. 63–78). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92429-8_5

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