Es war lange Zeit umstritten, ob das Sehen von Bewegung eine von anderen visuellen Systemen unabhängige Sehleistung darstellt oder eine auf der Analyse anderer sensorischer Größen wie Raum und Zeit basierende, also aus primitiveren sensorischen Prozessen abgeleitete Dimension ist. Wir wollen mit zwei klassischen Beobachtungen beginnen, die eindrucksvoll belegen, dass das Sehen von Bewegung ähnlich wie z. B. das Farbensehen tatsächlich als eigenständige visuelle Dimension zu verstehen ist. Die vermutlich älteste Evidenz hierfür ist der Bewegungsnacheffekt: Wenn wir lange Zeit bewegte Objekte betrachten, erscheinen uns nachfolgend beobachtete, physikalisch stationäre Dinge als entgegengesetzt zur vorher gesehenen Bewegungsrichtung bewegt. Dieses Phänomen wird oft anhand der 1934 von Adams beschriebenen »Wasserfallillusion« illustriert. Nachdem Adams einige Sekunden lang den Wasserfall von Foyers (Schottland) betrachtet hatte, überraschte ihn die Wahrnehmung nach oben bewegter Felsen, als er seinen Blick vom Fall abwandte. Der Beobachter erfährt eine irritierende perzeptuelle Dissoziation zwischen wahrgenommener Position und Bewegung – ein Beleg dafür, dass unsere Wahrnehmung von Bewegung keinesfalls eine einfache Repräsentation physikalischer Bewegung ist und nicht notwendigerweise aus einer Analyse der Positionsveränderung im Zeitverlauf abgeleitet wird. Als weiteres Beispiel für eine Bewegungswahrnehmung bei fehlender retinaler Bildverschiebung sei das Phänomen der apparenten Bewegung genannt. Apparente Bewegung ist uns allen schon, z. B. bei Leuchtreklamen, begegnet: In Reihe angeordnete Lichter, die sequenziell aufleuchten, nehmen wir als ein bewegtes Objekt wahr. Auch im Kino erzeugt die rasche Abfolge der Bildsequenzen einen absolut lebendigen Bewegungseindruck, obwohl jedes der einzelnen Bilder ein stationäres Lichtmuster auf unsere Netzhaut wirft.
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Haarmeier, T. (2006). Bewegungssehen, Stereopsis und ihre Störungen. In Neuropsychologie (pp. 41–54). Springer-Verlag. https://doi.org/10.1007/3-540-28449-4_4
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