Der Islam in Staat und Politik

  • Hartmann J
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, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 9 9.1 Grundlagen in der kolonialen Ära Im Kontext der Sunna sind Theorien gereift, die, wie oben erörtert, ihren Anstoß aus dem Kolonialismus und aus der Begegnung mit der westlichen Kultur erhielten. Der moderne Staat wurde in Europa " erfunden. " Im islamischen Kulturkreis fasste er erst spät Fuß. Als Ausgangspunkt für die Schilderung der christlichen Kirchen in der Politik wurde oben die europäische Aufklärung gewählt. Auch für das Verhältnis des Islams zu Staat und Politik hat diese Zäsur ihre Bedeutung. Die politischen Ver-treter des Islams hatten zwei aufeinander folgende große Herausforderungen zu bewältigen, erstens den Kolonialismus und zweitens das Entstehen einer Reihe un-abhängiger, mehrheitlich von Muslimen bewohnter Staaten. Letztere eiferten zu-nächst dem Staatenmodell Europas nach und kopierten dabei zeitweise auch die vom Westen entlehnten weltanschaulichen Modelle des Nationalismus und des Sozialismus. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die Ulama und die von Laien getragenen Strömungen islamischen Denkens. Die Ulama sind, wie oben beschrie-ben, die klassischen Interpreten des Islams. Qualifizierte Religionsgelehrte prüfen, ob die Anpassung der islamischen Gesellschaften an die Moderne noch im Rah-men des religiösen Gesetzes stattfindet. Nicht institutionell, aber im Sinne eines funktionalen Äquivalents gleicht ihre Aufgabe der theologischen Auseinander-setzung der christlichen Kirchen mit der modernen Zeit – mit dem bedeutenden Unterschied allerdings, dass das Christentum schon in seinen Anfängen wenig für ein christliches Herrschaftsmodell hergab. 232 9 Der Islam in Staat und Politik 9.1.1 Osmanisches Reich In der so genannten goldenen Ära des Islams waren die Ulama die einzige Instanz mit der Legitimation, die Politik zu beraten und ihre Aktionen zu kommentieren. Ob ihre Meinung Gewicht hatte – darüber lässt sich streiten. Mit Blick auf die Viel-falt und die Vielzahl der Gelehrten dürfte es den Herrschenden leicht gefallen sein, ihr Handeln durch passende Gutachten legitimieren zu lassen. Solange die Gesell-schaften im traditionellen Modus funktionierten, sollte sich nichts daran ändern. Der Niedergang des Kalifats beschleunigte die Entwertung der Ulama. Das Kalifat ging von den arabischen Ummayaden (660–1750) auf die Abbasiden (750–1517) und später auf die Osmanen (1517–1924) über. In der osmanischen Periode sank die Bedeutung der Ulama auf einen Tiefpunkt (Scott 2007, S. 156). Im osmanischen Kalifat trat die Rolle des sunnitischen Imams ganz in den Hintergrund. Der Kalif wurde hauptsächlich als Sultan wahrgenommen, als Inhaber einer Herrschafts-funktion. Im Unterschied zu den arabischen Kalifen, die ihr Reich als Mittelpunkt der Welt ansahen, blickten die Osmanen nach Westen. Dorthin verschoben sich die Machtzentren. Die Osmanen wollten im europäischen Mächtekonzert mitspielen. Mehrfach, bis ins 17. Jahrhundert hinein versuchten sie, über den längst eroberten Balkan hinaus ins Zentrum Europas vorzudringen (" Türken vor Wien "). Die Sulta-ne hatten einen klaren Blick für die Ursachen der deutlicher werdenden Überlegen-heit der christlichen Welt, von der sie in Ostmitteleuropa und dem Balkan zum Zu-rückweichen gezwungen wurden. Es handelte sich um überlegene Technologie und Staatsleistung in den Bereichen des Militärs, der Verwaltung und des Schulwesens. Um nicht weiter zurückzufallen, kopierten die Osmanen europäische Strukturen. Dabei fiel manches Tabu. Die Ulama in den Moscheen, Religionsschulen und Stiftungen begnügten sich damit, dass ihnen der Sultan dort nicht in ihre Tätigkeit hineinredete. Ihre Rechtsgutachten bestätigten regelmäßig das Regierungshandeln. Als dann im 19. Jahrhundert das höhere Bildungswesen, die Staatsverwaltung und die Religions-verwaltung im osmanischen Reich reformiert wurden, zeigte sich in den Reihen der Ulama trotzdem so gut wie kein offener Widerstand (Matzuzato und Sawae 2010, S. 334). Dabei verloren die Ulama mit diesen Reformen sogar einen Teil ihrer klassischen Aufgaben (Hatina 2010, S. 157 ff.). Die Ulama nahmen auch die vom Sultan gegebenen staatlichen Garantien für Christen und Juden mehr oder weniger grollend hin. Sie erschienen den Osmanen opportun, um den Religionsfrieden zu sichern. Um den Ausgleich mit den anderen Religionen bemüht, wurden Millets eingerichtet. Es handelte sich um Religions-kreise, in denen das Familien-und Privatrecht des Judentums, der armenischen

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Hartmann, J. (2014). Der Islam in Staat und Politik. In Religion in der Politik (pp. 231–266). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04732-0_9

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