Nachhaltigkeitswissenschaften

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Abstract

Der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz veröffentlichte im Jahr 1713 das Buch Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht. Darin zeigt er die Notwendigkeit und Möglichkeit einer „nachhaltenden Forstwirtschaft“ auf. Heute, 300 Jahre später, ist Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung eine Herausforderung, die weit über die Forstwirtschaft hinausweist: In unserer Zeit geht es u. a. um nachhaltiges Wirtschaften, nachhaltige Politik, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Nachhaltigkeitskommunikation, nachhaltige Chemie, nachhaltige Stadtentwicklung oder eine ökologische Lebensweise. Die regulative Idee der Nachhaltigkeit ist zu einem zentralen Referenzpunkt in Diskursen und Praktiken zur Zukunftssicherung der globalisierten Weltgesellschaft geworden. Die Initialzündung für die Verbreitung der Nachhaltigkeitsidee als gesellschaftspolitisches Leitprinzip kann der Brundtland-Kommission und der daran anknüpfenden Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (1992) zugeschrieben werden. 25 Jahre nach Veröffentlichung des sogenannten Brundtland-Berichts und 20 Jahre nach der Rio-Konferenz, fand erneut in Rio de Janeiro eine Konferenz der Vereinten Nationen zur nachhaltigen Entwicklung statt. Die Bilanz zum „silbernen Jubiläum“ des Brundtland- Berichts war ebenso ernüchternd wie die verabschiedeten nächsten Schritte. Trotz vereinzelter Teilerfolge in der Institutionalisierung und Verbreitung von Nachhaltigkeitsansätzen in der Wirtschaft, der Politik und weiteren Gesellschaftsbereichen zeigen zahlreiche Studien auf, dass sich die Welt insgesamt auf einem nicht-nachhaltigen Pfad befindet. Egal, ob die Bestandsaufnahme zur globalen Umweltsituation des Umweltprogramms der Vereinten Nationen herangezogen wird (UNEP Outlook 5 2012), der Zwischenbericht zu den Millennium-Development-Goals (MDG 2010), der Living Planet Report des WWF (2012) oder Berichte zu Teilfragen nachhaltiger Entwicklung wie dem Klimawandel, es erscheint ein sehr ähnliches Bild: Die globale Völkergemeinschaft ist weit entfernt von einer zukunftsfähigen, inter- und intragenerationell gerechten ökologischen, sozialen und ökonomischen Entwicklung. So ist beispielsweise der Anstieg an CO2 als wesentliche Ursache des anthropogenen Klimawandels trotz internationaler Klimapolitik seit 1990 um ca. 50 % gestiegen, der Artenverlust setzt sich – an vielen Orten beschleunigt – fort, die weltweite Armutsbekämpfung hinkt den gesteckten Zielen hinterher und die sozioökonomische Ungleichheit, die häufig mit soziopolitischer und soziokultureller Ungleichheit verknüpft ist, VI hat im Zuge der ökonomischen Globalisierung der vergangenen drei Jahrzehnte in vielen Ländern zugenommen. Dreihundert Jahre nach der Beschreibung von Nachhaltigkeitsprinzipien in der Forstwirtschaft und 25 Jahre nach der Konzeptionierung von Nachhaltigkeit als gesellschaftspolitischer Leitidee ist der Bedarf nach mehr Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Praxis somit größer denn je. Auch wenn sich sicherlich darüber streiten lässt, inwieweit ein „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, wie ihn der Wissenschaftliche Beirat der deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU 2011) fordert, möglich ist, so erscheint doch klar, dass nachhaltiges Handeln und Entscheiden zur Zukunftssicherung zwingend notwendig ist. Neben Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft sowie den Individuen als Bürger und Konsumenten kommt auch der Wissenschaft eine wesentliche Rolle zu. Durch Forschung und Lehre ist die Wissenschaft ein wesentlicher Ort der Zukunftsgestaltung. Sie könnte und sollte einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft leisten. Die traditionelle, disziplinär aufgegliederte Wissenschaft, die gemäß dem Motto „Die Gesellschaft hat Probleme – die Universitäten haben Disziplinen“ operiert, erscheint für diese Aufgabe aber nur unzureichend gerüstet. Eine Wissenschaft, die konkrete Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung leisten will, ist gut beraten, gezielt problemlösungsorientiert zu arbeiten. Dafür ist zum einen notwendig, Disziplinengrenzen zu überschreiten und interdisziplinär mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus gehend ist zum anderen in transdisziplinären Forschungs- und Entwicklungsprozessen mit Akteuren aus der Praxis zu kooperieren. Neben der disziplinären Erforschung der Welt bedarf es somit einer inter- und transdisziplinären Nachhaltigkeitswissenschaften, um die nachhaltige Entwicklung mit qualitativ hochwertiger Expertise zu unterstützen und Nachhaltigkeitsexperten und -expertinnen für die vor uns liegenden großen Herausforderungen auszubilden. Erste Ansätze zur Entwicklung und Etablierung von Nachhaltigkeitswissenschaften sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit in Gang gebracht worden. Es gibt Fachzeitschriften, Studiengänge, Förderprogramme und Professuren. Trotz dieser Initiativen, die auch zu einer unüberschaubaren Anzahl von Publikationen geführt hat, gibt es nach wie vor ein Mangel an Lehrbüchern, die auf die Zielgruppe der Studierenden zugeschnitten sind und versuchen, einen umfassenden Überblick über inter- und transdisziplinäre Nachhaltigkeitswissenschaften zu geben. Das vorliegende Lehr- und Arbeitsbuch will diese Lücke schließen. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über wesentliche Grundlagen nachhaltiger Entwicklung. Es wird eingeführt in die Hintergründe und Zusammenhänge und in relevante theoretische Konzepte. Am Schluss steht eine Reflexion auf die Resonanz zum Thema im Wissenschaftssystem. Im Folgenden werden charakteristische Besonderheiten von Nachhaltigkeitswissenschaften diskutiert: die nachhaltigkeitsethische Perspektive, die aufgrund der Normativität des Konzeptes von zentraler Bedeutung ist, die Relevanz und das Gestaltungspotenzial transdisziplinärer Forschung sowie eine Übersicht über das Methodenspektrum der Nachhaltigkeitswissenschaften. Anschließend wird in zentrale natur- und humanwissenschaftliche Zugänge zur nachhaltigen Entwicklung eingeführt. Dazu gehören Einleitung VII in der naturwissenschaftlichen Perspektive die Darstellung der Grundlagen zu Ökosystemen und Biodiversität, chemischen Stoffe in der Umwelt sowie wichtige Erdsysteme und Stoffkreisläufe, insbesondere Klima und Boden. In der humanwissenschaftlichen Perspektive werden drei hervorgehobene Gesellschaftsbereiche fokussiert: In der staatlich-öffentlichen Gestaltung von Nachhaltigkeit werden ökonomische, politik-, rechts- und planungswissenschaftliche Grundlagen vermittelt; zur unternehmerischen Nachhaltigkeit werden Grundlagen und Perspektiven des Nachhaltigkeitsmanagements diskutiert; und schließlich werden mit Blick auf zivilgesellschaftliche Prozesse zur nachhaltigen Entwicklung wichtige Aspekte der Kommunikation, Partizipation und der (digitalen) Medien entfaltet. Im letzten Teil folgen dann – beispielhaft – Handlungsfelder nachhaltiger Entwicklung, in denen insbesondere auch die Relevanz inter- und transdisziplinärer Problembearbeitung aufgezeigt wird. Das Spektrum der Nachhaltigkeitsthemen reicht von Energie über Moore, Wasser und Küstenschutz, bis zu Regionalentwicklung, Kommunalverwaltung und Herausforderungen für die Bildung. Ähnlich einem Mosaik bilden die Einzelkapitel Bausteine, die – zusammengesetzt – einen Gesamtüberblick über wesentliche Grundlagen und konkretisierende Anwendungsfelder und damit ein Gesamtverständnis von Nachhaltigkeitswissenschaften und Themen nachhaltiger Entwicklung geben sollen. Wir hoffen, mit dem Lehrbuch einen Beitrag zur weiteren Etablierung der Nachhaltigkeitswissenschaften zu leisten und der nächsten Generation von Nachhaltigkeitsexperten und -expertinnen einen einführenden Überblick in das ebenso spannende wie herausfordernde „Jahrhundert-Thema“ der nachhaltigen Entwicklung zu ermöglichen. Wir danken allen ganz herzlich, die für dieses Buch einen Beitrag verfasst haben, die sich an der redaktionellen Arbeit beteiligt haben und die den mühsamen Weg bis zur Veröffentlichung mitgegangen sind. Diese Publikation wäre ohne ihre Mitwirkung und Unterstützung nicht möglich gewesen. Auch wenn alle Beteiligten bemüht waren, sorgfältig und genau zu arbeiten, können auch in diesem Buch noch Fehler stecken. Sie gehen selbstverständlich auf das Konto der Herausgeber.

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Nachhaltigkeitswissenschaften. (2014). Nachhaltigkeitswissenschaften. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-25112-2

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