Der Darstellung ausgewahlter soziologischer Erklarungsansatze fur Gewaltkriminalitat muss eine Benennung der Grenzen des Vorhabens vorangehen. Erstens ist zu beachten, dass es um Erklarungen von Gewaltkriminalitat geht, also die vielfaltigen Formen von Gewalt, die strafrechtlich nicht als Kriminalitat gelten, ausgeschlossen bleiben. Da diese Grenzziehungen von den jeweils nationalen Rechtssystemen vorgenommen werden und historisch erheblichen Anderungen unterworfen sind, bleibt der Gegenstandsbereich notwendig unscharf definiert. Zweitens weist der Gewaltbegriff insbesondere innerhalb strafrechtlicher Kontexte eine enge Fixierung auf physische Gewalt auf, so dass angesichts langerfristiger Veranderungen alltagsweltlicher Konzeptionen von Gewalt die strafrechtliche Perspektive den realen „Gewaltproblemen“ zunehmend unangemessener wird. Drittens stellen wir auf individuelle Gewaltkriminalitat ab, einerseits einleuchtend, weil z. B. Genozide sicher einer anderen Erklarung bedurfen als ein Handtaschenraub, andererseits aber auch fragwurdig, weil die rein strafrechtliche Einordnung einer Straftat als Tat eines einzelnen nicht garantieren kann, dass nicht komplexe Gruppenprozesse und -bezuge von entscheidender Bedeutung fur das Geschehen waren. Ob daher der Umstand, dass laut polizeilicher Kriminalstatistik die ganz uberwiegende Mehrheit der Gewaltdelikte z. B. in Deutschland - und dies mit zunehmender Tendenz in den letzen 20 Jahrenin Alleintaterschaft begangen werden, bedeutet, dass die Erklarung individueller Gewaltkriminalitat eine Erklarung von Gewaltkriminalitat uberhaupt darstellt, ist durchaus fraglich.
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Albrecht, G. (2002). Soziologische Erklärungsansätze individueller Gewalt und ihre empirische Bewährung. In Internationales Handbuch der Gewaltforschung (pp. 763–818). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80376-4_31
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