Wie verstehen Kinder Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch?

  • Kindler H
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Abstract

Kinder können auf ihre Grundrechte nicht verzichten. Ob sie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch als solche verstehen, ist daher nicht ausschlaggebend dafür, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Dies ergibt sich alleine schon daraus, dass Kinderschutz auch bei Kindern greifen muss, die aufgrund von Alter und Entwicklungsstand noch nicht über Erfahrungen nachdenken oder sich dazu äußern können. Umgekehrt führen auch Angaben eines Kindes, es habe sich durch bestimmte elterliche Verhaltensweisen sehr verletzt oder missachtet gefühlt, nicht geradlinig zu einer Übernahme der Bewertung durch Jugendämter oder Familiengerichte. Auch wenn ein Hilfebedarf in entsprechenden Fällen anzunehmen ist, handelt es sich vielleicht lediglich um einen eskalierten Eltern-Kind Konflikt oder gar um induzierte Erinnerungen und Bewertungen im Kontext von Hochstrittigkeit und Beeinflussung (Blandon-Gitlin et al., 2020; Saini et al., 2020). Erleben und Bewertungen von Kindern und die Bewertungen von Jugendämtern sowie Gerichten im Rahmen von Gefährdungseinschätzungen fallen also nicht zusammen. Warum sich trotzdem damit auseinandersetzen, wie Kinder auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch reagieren und diese Erfahrungen zu verstehen versuchen? Vier Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Kinder sind eine zentrale, manchmal die einzige Informationsquelle im Hinblick auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch. In der Exploration bzw. Anhörung durchdringen und beeinflussen sich in aller Regel Schilderungen von Erfahrungen und den Reaktionen der Kinder darauf. Bestimmte Verständnisse von Kindern können es sogar sehr schwer machen, dass ein Gespräch überhaupt gelingt. So wird ein Kind, das davon ausgeht, es sei selbst an einem erfolgten sexuellen Missbrauch schuld und könne dafür bestraft werden, vermutlich nicht so leicht mit einer Autoritätsperson darüber sprechen. Manche Erklärungen von Kindern können für Fachkräfte auch irritierend sein, etwa wenn Rechtfertigungen von Elternteilen, warum es zu Misshandlung, Vernachlässigung oder Partnerschaftsgewalt gekommen ist, übernommen werden und die Darstellung prägen (z. B. erst habe ich nicht gehört und dann musste mich der Papa bestrafen). Ein Verständnis, das Kinder lediglich als mehr oder weniger gute Informanten über Erlittenes ansieht, verfehlt daher wesentliche Aspekte der Gesprächssituation. Weiter üben Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern einen Einfluss auf ihre Willensäußerungen aus, die wiederum einen Aspekt des Kindeswohls darstellen. So wird ein Kind, das davon überzeugt ist, es müsse sich selbst und die Mutter versorgen, weil diese nicht anders könne als zu trinken, häufig eine Fremdunterbringung entschieden ablehnen und sich gegebenenfalls an Versuchen beteiligen, Probleme zu vertuschen. Ein Wissen um Wie verstehen Kinder Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch? © KJPP, Universitätsklinikum Ulm, 2020 | guteverfahren.elearning-kinderschutz.de 2 Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern ist daher auch sinnvoll, um mögliche Hintergründe eines geäußerten Kindeswillens ausleuchten zu können. Kinder reagieren ganzheitlich, also körperlich, emotional und gedanklich auf Gefährdungserfahrungen und häufig auch auf eine Thematisierung solcher Erfahrungen. Daher kann es immer sein, dass Kinder in der Exploration oder Anhörung zu zittern beginnen, weinen, erstarren oder abbrechen wollen. Für alle professionellen Beteiligten am Verfahren ist es daher wichtig, sich mit den Reaktionsweisen von Kindern beschäftigt zu haben. Schließlich beeinflusst ein Kinderschutzverfahren unweigerlich die Art und Weise, wie Kinder ihre Erfahrungen verstehen und beurteilen. Jenseits dann eventuell beschlossener Maßnahmen, stellt das Verfahren selbst bereits eine Intervention dar. Entsprechend der Kommunikationstheorie (z. B. Mortensen, 2007) ist es etwa nicht möglich nicht zu reagieren, wenn Kinder angehört oder exploriert werden, da auch ein Schweigen, Wegschauen oder schnelles Stellen der nächsten Frage als Botschaft verstanden werden kann (z. B. „Es ist peinlich, was Du da erzählst.“ oder „Ich will das eigentlich gar nicht hören.“). Obwohl im Kinderschutzverfahren das Sammeln und Bewerten von Informationen in den Mittelpunkt gerückt ist, bleibt es sinnvoll, sich Gedanken darüber zu machen, ob, wann und wie bewusst auf manche in Verfahren deutlich werdende Erfahrungen oder Verständnis- und Bewältigungsversuche von Kindern reagiert werden soll. Zudem kann es sein, dass diese Aspekte auch bei Schutzkonzepten und Hilfeplänen berücksichtigt werden müssen, da beispielsweise ein Kind, das starke Scham- und Schuldgefühle empfindet, im Rahmen ambulanter Hilfe bei weiteren Gefährdungsvorfällen nur schwer Hilfe suchen kann. Nachfolgend werden in einem Dreischritt (1) unmittelbare Reaktionen von Kindern auf erfahrene Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch, (2) Verständnis- und Erklärungsversuche von Kindern sowie (3) kindliche Bewältigungsstrategien bei länger anhaltenden Gefährdungssituationen besprochen. Hieraus werden (4) Empfehlungen von Explorationen bzw. Anhörungen und für die Gestaltung von Hilfe- und Schutzkonzepten abgeleitet.

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Kindler, H. (2023). Wie verstehen Kinder Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch? In Gute Kinderschutzverfahren (pp. 261–274). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66900-6_18

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