Bewältigung chronischer Krankheit

  • Schaeffer D
  • Haslbeck J
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Doris Schaeff er und Jörg Haslbeck 16 Bewältigung chronischer Krankheit Überblick ▶ Welche Bedeutung kommt dem Wandel des Krankheitsspektrums zu? ▶ Welche Merkmale kennzeichnen chronische Krankheiten und welche Bewältigungs-herausforderungen verursachen sie auf subjektiver Ebene? ▶ Wie stellt sich die Bewältigung chronischer Krankheit in den unterschiedlichen Phasen des Krankheitsverlaufs dar? ▶ Welche Herausforderungen sind mit chronischen Krankheiten für das Gesund-heitssystem verbunden? 1 Einleitung Dem naturwissenschaft lich geprägten biomedizinischen Modell zufolge wird Krankheit als Störung des Organismus und Abweichung von einer biologischen Norm betrachtet. In Einklang damit richtet sich die Aufmerksamkeit auf Heilung und Wiederherstellung eines als wünschenswert erachteten normativen organischen Zustands. Weitgehend außer Acht bleiben soziale und subjektive Aspekte sowie die Frage, was es für das Individuum bedeutet krank zu sein. Dagegen stehen in einer soziologischen Betrachtung soziale Einfl ussfaktoren auf Krankheit – sowohl auf die Verursachung, die ungleiche Verteilung (Lampert in diesem Band) wie auch die Bewältigungsmöglichkeiten – im Fokus. Zudem gilt das Interesse der Frage, wie sich der Umgang mit Krankheit darstellt: Wie sie subjektiv erlebt wird, welche Bewältigungsstrategien gesucht werden, wie die Bewältigung sozial ausgehandelt und konstruiert wird, auf welche soziale Resonanz sie stößt und mit welchen Anforderungen sie im sozialen Netz einhergeht. Diesen, sich auf subjektiver und sozialer Ebene stellenden Herausforderungen bei der Krankheitsbewältigung widmet sich dieses Kapitel, das mit Hinweisen zu den Konsequenzen für das Gesundheitssystem schließt. Es konzentriert sich auf chronische Krankheiten, denen weltweit wachsende Bedeutung zukommt und die vielfältige Herausforderungen auf subjektiver und sozialer Ebene aufwerfen. M. Richter, K. Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit, DOI 10.1007/978-3-658-11010-9_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 244 Doris Schaeffer und Jörg Haslbeck 2 Bedeutung, Merkmale und Bewältigungsherausforderungen bei chronischer Krankheit Der Wandel des Krankheitsspektrums – die Verlagerung der Bedeutung von akuten hin zu chronischen Krankheiten – gehört zu den großen gesellschaftlichen Herausforderun-gen, der für die Gesundheitssysteme, aber auch die Erkrankten und ihr soziales Netz mit zahlreichen Konsequenzen einhergeht. Weltweit haben chronische, nichtübertragbare Krankheiten in den zurückliegenden Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. In Europa sind sie an die Stelle der Infektionskrankheiten getreten, die einst das Mortalitäts-und Morbiditätsspektrum do-miniert haben. Sie machen heute etwa Zweidrittel der Krankheits-und Todesfälle aus und sollen künftig sogar 80 % der Todesfälle verantworten (WHO 2011). Zu den wichtigsten chronischen Krankheiten gehören Herz-Kreislauferkrankungen, bösartige Neubildungen, Atemwegserkrankungen, Diabetes sowie Krankheiten des Bewegungs-und Stützapparates (ebd.). Anders als Akuterkrankungen sind chronische Krankheiten nicht heilbar und durch Dauerhaftigkeit charakterisiert. 20 bis 30-jährige Verlaufsdauern sind heute keine Aus-nahme mehr. Chronische Krankheiten beeinflussen oft das gesamte weitere Leben und lassen weder die Biographie noch die Identität unberührt. Auf all diesen Ebenen fordern sie den Erkrankten zahlreiche Anpassungs-und Lernprozesse ab (Charmaz 2000, Corbin & Strauss 2004, Nittel & Seltrecht 2013, Schaeffer 2004). Viele dieser Prozesse treffen auf eine Leerstelle im Erfahrungsrepertoire, dennoch müssen die Erkrankten so oder so mit ihnen umgehen und Bewältigungsstrategien entwickeln. Auch die Kranken-und Patientenrolle stellt sich bei chronischen Krankheiten anders dar. Herkömmlicherweise wurde sie – so Talcott Parsons in seiner bis heute sehr wir-kungsmächtigen Definition (1963) – als zeitlich befristeter Status beschrieben, der durch eine akute Krankheit ausgelöst wird, durch die der Erkrankte vorübergehend außerstande ist, seinen gesellschaftlichen Aufgaben und Rollenverpflichtungen nachzukommen. Mit der Übernahme der Patientenrolle wird er davon entbunden und ist im Gegenzug nur verpflichtet, an seiner Genesung mitzuwirken: das Medizinsystem aufzusuchen und die dort erhaltenen Hinweise zu befolgen. Mit der Gesundung endet die Patientenrolle. Dagegen sind chronische Krankheiten eben nicht vorübergehend und das hat Konse-quenzen für die Kranken-und Patientenrolle. Auch sie ist nicht mehr zeitlich befristet und begleitet die Erkrankten fortan. Sie ist zugleich anspruchsvoller geworden (Boyer & Lutfey 2010). Denn bei chronischen Krankheiten besteht die Aufgabe der Erkrankten nicht einzig darin, ärztliche Hinweise zu befolgen. Vielmehr müssen sie über Jahre oder Jahrzehnte hinweg einen irreversiblen und wechselhaften Zustand mit Phasen bedingter Gesundheit und Phasen von Krankheit managen. Damit werden Selbstbeobachtung, Monitoring von Symptomen, Selbststeuerung und Selbstmanagement konstante Aufgaben der Erkrankten (Schaeffer 2004, 2015). Sie stoßen allerdings auf Kompetenz-und Wissensdefizite, wie Un-tersuchungen zur Gesundheitskompetenz zeigen (ebd., Sørensen et al. 2015). Information,

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Schaeffer, D., & Haslbeck, J. (2016). Bewältigung chronischer Krankheit. In Soziologie von Gesundheit und Krankheit (pp. 243–256). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11010-9_16

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