Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung

  • Diefenbach S
  • Hassenzahl M
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Abstract

Wir möchten Menschen glücklich machen. Das klingt in postmodernen Zeiten im besten Fall naiv, im schlimmsten Fall ver- werflich. Für manche riecht es nach Big Brother, Freiheitsverlust und Manipulation; nach Geräten, die Menschen ohne deren Zustimmung in gesündere, sozialere oder wirtschaſtlichere Verhaltensweisen drängen, weil es vermeintlich zu ihrem Besten ist. Google, Facebook, Microsoſt und Apple machen uns gerade vor, was es bedeutet, wenn sich große Unternehmen auf die Fahnen schreiben, die Welt zu retten. Evgeny Morozow nennt das in seinem Buch To save the world, click here kritisch solutionism. Die Welt wird dabei als ein Problem verstanden, das es mithilfe von Technik zu lösen gilt. Uns fällt es zunehmend schwer, von all den sozialen Medien, autonomen Fahr- zeugen, Datenfarmen, Robotern, virtuellen Realitäten und künstlichen Intelligen- zen begeistert zu sein, denn oſtmals ist das keine wirkliche Technik für Menschen. Wie Bruce Sterling (in The Epic Struggle of the Internet of Things) richtig bemerkt: Wir sind keine Kunden von Facebook, sondern schuſten lediglich unentgeltlich im notdürſtig maskierten Datenbergwerk, angetrieben durch unser menschliches Be- dürfnis nach sozialem Austausch, benutzt von den wirklichen Kunden von Facebook. Das ist keine Technik für uns. Wie alle Dinge und Werkzeuge unseres Alltags darf auch Technik nicht unkritisch betrachtet werden. Technisch fortschrittlich heißt nicht unbedingt gesellschaſtlich fortschrittlich oder Wohlbefinden verbessernd. Wir brauchen eine psychologische Perspektive: Was macht Technik mit uns im Alltag? Wie verändert sie unseren Um- gang miteinander und unsere sozialen Normen? Wie muss sie gestaltet sein, sodass langfristig bedeutsame Erlebnisse geschaffen werden, die mehr als ein kurzer Hype aufgrund der Neuartigkeit der Technik sind? Was können wir tun, damit die Tech- nik Menschen nicht in Routinen führt, die ihnen eher schaden als guttun? Wer mit, durch oder trotz Technik Menschen glücklicher machen will, muss nicht gleich ein (digitales) Dankbarkeitstagebuch oder eine Achtsamkeitsapp entwickeln. Auch die Soſtware, mit der wir täglich arbeiten (z. B. Microsoſt Word, gerade im Moment), hat das Potenzial, einen Beitrag zum eigenen Wohlbefinden zu leisten. Ein Schreibpro- gramm muss Basisfunktionen bieten (Dokumente schreiben, speichern, schließen, öffnen), aber Glück entsteht an anderer Stelle. Was zählt, sind die Erlebnisse, die durch die Nutzung von Word entstehen, wie beispielsweise ein Gefühl von Kompe- tenz (toll, diese vielen Formatvorlagen – da sieht mein Geschreibsel doch gleich viel professioneller aus), Autonomie (geteilte Seitenansicht – ich kann an zwei Stellen gleichzeitig schreiben, alles im Blick haben) oder auch der Einschränkung von Auto- nomie (Karl Klammer nervt mal wieder, er glaubt, ich möchte einen Brief schreiben und mischt sich ein – mittlerweile glücklicherweise abgeschafft) Hersteller technischer Produkte beginnen, sich zunehmend für das Erlebnis zu in- teressieren. So wird die Gestaltung interaktiver Produkte auch zum Betätigungsfeld für Psychologen und entwickelte sich zum Teilgebiet der Wirtschaſtspsychologie. Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Wirtschaſt und Wohlbefinden – wie passt das zu- sammen? Lehrt uns die Wirtschaſtspsychologie, insbesondere die Markt- und Kon- sumentenpsychologie, nicht vorrangig, wie sich Dinge am besten verkaufen? Den Kunden Dinge aufschwatzen, die sie eigentlich gar nicht wollen, Manipulationstak- tiken, Verkaufstricks? Sicherlich wird es Menschen und Unternehmen geben, die sich primär dafür interessieren. Wir aber bleiben bei unserer Mission: Wir wollen Menschen glücklich machen. Und zwar, indem wir ihre Bedürfnisse verstehen und ernst nehmen. Mit diesem Buch wollen wir Anregungen geben, wie eine psychologische und er- lebnisorientierte Perspektive die Gestaltung von Technik bereichern kann. Dabei schließt jedoch die erlebnisorientierte Perspektive auf Technik ein unternehmeri- sches Interesse nicht aus. Im Gegenteil, oſtmals wird das Erlebnis zum wichtigen Alleinstellungsmerkmal und Erfolgsfaktor (oder ist das iPhone einfach nur prak- tisch?). Wer das beste Erlebnis verkauſt, gewinnt. In anderen Domänen ist dies schon lange selbstverständlich – der Hotelier, der es schafft, dass sich seine Gäste rundum wohlfühlen, die nette Bar an der Ecke, in der scheinbar einfach alles dafür gemacht ist, dass hier gute Gespräche entstehen. Perfektes Experience Design könnte man sagen. Warum auch nicht, wenn hierdurch der Alltag der Menschen bereichert wird. Glück wird im Alltag gemacht. Was und wie wir etwas tun, bestimmt unser Wohl- befinden. Bei Handlungen spielt die Interaktion mit Dingen, im weitesten Sinne technische Geräte, eine zentrale Rolle. Ganz unabhängig davon, ob dies so gewollt ist oder nicht. Die Gestaltung von Technik – oder allgemein von Dingen unseres Alltags – ist also geradezu prädestiniert, um einen Beitrag zu mehr Glück zu leisten. Wissen Sie was ein „Smombie“ ist? Das Jugendwort des Jahres 2015 ist eine Kombi- nation aus Smartphone und Zombie. Es bezeichnet Menschen, die durch den stän- digen Blick auf ihr Smartphone ihre Umgebung kaum noch wahrnehmen. Augsburg und Köln richten nun Bodenampeln ein, damit aus Smombies nicht wirklich Tote werden. Wahrscheinlich hat das kein Smartphonedesigner geplant oder gewollt. Es ist aber eine Konsequenz des extremen Buhlens um die Aufmerksamkeit der Nutzer. Mit Wohlbefinden hat das wenig zu tun, eher schon mit Sucht. Und manche Zyniker in großen Konzernen nehmen dies hin, solange die Werbeeinnahmen nur sprudeln. Als Gestalter interaktiver Produkte braucht man einen moralischen und methodischen Kompass. Nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch persönlich oder gesellschaſtlich erstrebenswert. Aus unserer Sicht ist die Technik für den Menschen gedacht. Es geht um Dinge, die den Alltag verändern, ihn aber nicht notwendigerweise schneller oder einfacher, sondern freudvoller und bedeutungsvoller machen. Hier scheint für uns auch der Unterschied zu liegen, zwischen dem moderaten Wunsch, Menschen im Alltag etwas glücklicher zu machen, und dem überzogenen Anspruch von Hightechunternehmen, die Welt zu retten. Wir, Sarah und Marc, arbeiten seit mehr als zehn Jahren gemeinsam an der Schnitt- stelle von Psychologie, Informatik und Mensch-Technik-Interaktion sowie von In- teraktion- und Industriedesign. Dieses Buch ist unser Versuch, die gesammelten Erfahrungen und Eindrücke in eine Form zu bringen, die Sie dazu einlädt, die Ge- staltung von interaktiven Produkten aus der Perspektive von Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden zu betrachten. Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie zusammenhängend oder auch einzeln gelesen werden können, wodurch sich Doppelungen zwischen den Kapiteln nicht gänzlich ausschließen lassen. In ▶ Kap. 1 bis 4 des Buchs werden relevante Themenfelder diskutiert. Dabei widmen wir uns ganz besonders den gerade entstehenden Themen, wie dem Nutzungserleb- nis, der Veränderung von Verhalten durch interaktive Produkte, oder der Frage, was Konsumenten von interaktiven Produkten eigentlich erwarten. Auch Zusammen- hänge zwischen ethischen und gesellschaſtlichen Aspekten (z. B. Nachhaltigkeit) werden beleuchtet. Ziel ist es nicht, einen erschöpfenden theoretischen Überblick zu geben, sondern anhand einer Auswahl von Studien und Beispielen einen Ein- druck der Vielfältigkeit des Berufsfeld zu vermitteln und zu skizzieren, mit welchen weiteren Aufgaben zukünſtig zu rechnen ist. Nicht zuletzt soll in diesen Kapiteln deutlich werden, wie notwendig psychologische Kompetenzen für die Gestaltung interaktiver Produkte sind, um qualitativ hochwertige interaktive Produkte wahr- scheinlicher zu machen. In ▶ Kap. 5 bis 9 des Buchs liegt der Schwerpunkt auf Methoden und Werkzeugen für die psychologisch orientierte Gestaltung von Interaktion und Erlebnis. Die vor- gestellten Ansätze liefern ein wissenschaſtlich fundiertes und gleichzeitig anwen- dungsbezogenes Repertoire für die Gestaltung und Evaluation interaktiver Produkte in Forschung und Praxis. Noch ein Wort bevor es richtig losgeht: Bücher schreibt man nicht alleine. Sie sind das Ergebnis unzähliger Gespräche und intensiver Zusammenarbeit – nicht nur zwi- schen den Autoren. Wir haben das Glück schon seit einigen Jahren von einer ganzen Horde kluger und interessanter Gesprächspartner umgeben zu sein. Dazu zählen unter vielen anderen (in alphabetischer Reihenfolge): Wei-Chi Chien, Lara Chris- toforakos, Kai Eckoldt, Stephanie Heidecker, Holger Klapperich, Martin Knobel, Kirstin Kohler, Matthias Laschke, Claudius Lazzeroni, Eva Lenz, Carmen Ludwig, Jasmin Niess, Thies Schneider, Josef Schumann, Stefan Tretter und Julika Welge. Vielen Dank an Euch. Auch darf man nicht die Organisationen vergessen, die einen erheblichen Teil unserer Arbeiten finanziell möglich gemacht haben. Dazu gehören das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die BMW Forschung und die BMW Group, die Siemens AG und Siemens Healthcare und viele andere. Insbesondere ▶ Kap. 4 hat außerordentlich von dem Projekt „Design for Wellbeing“ profitiert, gefördert durch den Leitmarkt Medien und Kreativwirtschaſt in Nord- rhein-Westfalen (OPEFRE, Förderkennzeichen: EFRE 0800005). Unser Dank geht hier an das ganze Forschungsteam. Um seine Arbeit gut zu machen, ist es notwendig auch mal auf andere Gedanken zu kommen. Dabei unterstützen uns: Daniel Ullrich, Annette Amon-Hassenzahl, Alma Hassenzahl und Greta Hassenzahl. Danke auch an Euch. Nun ist es aber Zeit loszulesen. Viel Vergnügen wünschen Ihnen Sarah Diefenbach und Marc Hassenzahl

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Diefenbach, S., & Hassenzahl, M. (2017). Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung. Psychologie in der nutzerzentrierten Produktgestaltung. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-53026-9

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